Existiert ein Anspruch auf Urlaub zur Betreuung meines kranken Kindes oder Ehepartners – ohne dafür Ferientage einsetzen zu müssen?

Urlaub für die Betreuung von Familienmitgliedern

Gemäss Art. 329h OR  haben Arbeitnehmende einen gesetzlichen Anspruch auf bezahlten Urlaub, um sich um gesundheitlich beeinträchtigte Angehörige zu kümmern.

Dieser Betreuungsurlaub gilt für die Betreuung von eigenen Kindern, Ehegatten oder eingetragenen Partnern sowie weiterer naher Verwandter (Eltern, Geschwister, Grosseltern) und sogar Lebenspartnern, sofern ein gemeinsamer Haushalt seit mindestens 5 Jahren besteht.

Der Urlaub ist auf die notwendige Betreuungsdauer beschränkt und beträgt pro Ereignis maximal 3 Arbeitstage – etwa bei einer akuten Krankheit oder einem Unfall eines Angehörigen. Insgesamt dürfen pro Dienstjahr höchstens 10 Tage solcher Betreuungsurlaube bezogen werden. Das bedeutet: Auch wenn mehrere Angehörige im selben Jahr erkranken, dürfen alle bezahlten Pflegeabsenzen zusammen 10 Arbeitstage pro Jahr nicht überschreiten .

Bei Kindern gilt folgender Sonderfall: Für die Betreuung von erkrankten eigenen Kindern gilt die Obergrenze von 10 Tagen pro Jahr nicht. Zwar ist auch hier die einzelne Abwesenheit auf 3 Tage je Krankheitsfall limitiert, aber wenn ein Kind mehrmals krank wird oder man mehrere Kinder hat, können Eltern für jeden Krankheitsfall erneut bis zu 3 Tage beziehen, ohne auf ein Jahreskontingent begrenzt zu sein. Diese grosszügigere Regelung für Kinder ergibt sich aus Art. 36 Abs. 4 Arbeitsgesetz (ArG). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass kleine Kinder häufiger erkranken können und in solchen Fällen die Eltern mehrfach einspringen müssen.

Parallel zum spezifischen Anspruch aus Art. 329h OR eröffnet sich für bestimmte nahe Angehörige einen weiteren Rechtsanspruch: Arbeitnehmende mit gesetzlicher Betreuungspflicht (insbesondere gegenüber eigenen Kindern oder Ehe-/eingetragenen Partnern) haben gemäss Art. 36 Abs. 3 ArG Anspruch auf bezahlte Urlaubstage zur Betreuung dieser Familienmitglieder. Voraussetzung ist in der Regel die Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses, welches die gesundheitliche Beeinträchtigung und den Betreuungsbedarf. Der Arbeitgeber muss in diesem Fall die benötigte Zeit für die Betreuung gewähren – wiederum beschränkt auf maximal 3 Tage pro Ereignis und (ausser bei Kindern) 10 Tage pro Jahr.

Wichtig: Diese Arbeitsbefreiung wird arbeitsrechtlich wie eine unverschuldete Verhinderung an der Arbeitsleistung gewertet und löst eine Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers aus, analog zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall des Arbeitnehmers selbst. Art. 324a OR regelt, dass der Arbeitgeber den Lohn für eine beschränkte Zeit weiterzahlen muss, wenn der/die Angestellte aus persönlichen Gründen (z.B. Krankheit, Unfall oder Pflege eines nahen Angehörigen) ohne eigenes Verschulden der Arbeit fernbleibt .

Entsprechend muss der Arbeitgeber bei Krankheit des Kindes, des Ehegatten oder des/der eingetragenen Partners/Partnerin den Lohn für kurze Zeit weiterzahlen, solange kein adäquater Ersatz für die Betreuung gefunden ist bzw. die Präsenz des Arbeitnehmers aus medizinischen Gründen notwendig bleibt.

Die soeben beschriebenen Ansprüche (aus Art. 329h, Art. 324a und Art. 36 ArG) bestehen nebeneinander und sind relativ zwingender Natur, d.h. zugunsten der Arbeitnehmenden.

Art. 329h OR schafft eine eigenständige Anspruchsgrundlage für bezahlten Betreuungsurlaub, ohne die allgemeinen Lohnfortzahlungsansprüche nach Art. 324a OR zu verdrängen.

Praktisch bedeutet das: Hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Betreuungsurlaub, muss der Arbeitgeber in jedem Fall den Lohn weiterzahlen – entweder gestützt auf Art. 329h OR oder gestützt auf Art. 324a OR, je nachdem welche Norm gerade zur Anwendung gelangt.

Insbesondere bei der Betreuung kranker Kinder kommt häufig Art. 36 ArG i.V.m. Art. 324a OR zur Anwendung, weil hier – anders als bei Art. 329h OR – keine fixe Jahresobergrenze von 10 Tagen gilt . Für Arbeitgeber und Arbeitnehmer führt dies zu gewissem Spielraum in der Handhabung: Parallel geltend machen im Sinne von doppelt zählen kann man die Ansprüche zwar nicht, aber man kann wählen, welchen Rechtsanspruch man zuerst in Anspruch nimmt.

So könnten Eltern etwa bei mehreren Krankheitsfällen der Kinder zunächst die Lohnfortzahlung nach Art. 324a OR in Anspruch nehmen, ohne das 10-Tage-Guthaben aus Art. 329h OR aufzubrauchen . Ist das jährliche Lohnfortzahlungskontingent nach Art. 324a OR (das ja je nach Dienstjahr begrenzt ist) erschöpft, kann immer noch auf die Ansprüche aus Art. 329h OR zurückgegriffen werden.

Umgekehrt ist es zulässig, zuerst die 3 Tage Betreuungsurlaub nach Art. 329h OR zu beziehen und im Anschluss – falls weitere Abwesenheit nötig ist – zusätzliche freie Tage nach Art. 324a OR zu beanspruchen.

Die verschiedenen gesetzlichen Ansprüche dürfen also sequenziell kombiniert werden, bis ihre jeweiligen Höchstgrenzen erreicht sind. Eine gleichzeitige doppelte Kompensation desselben Tages ist hingegen ausgeschlossen.

Hinweis: Für länger andauernde Pflegefälle (schwer kranke oder verunfallte Kinder) hat der Gesetzgeber zudem einen zusätzlichen Betreuungsurlaub von bis zu 14 Wochen geregelt. Dieser langfristige Urlaub nach Art. 329i OR kann einmal pro Ereignis (innerhalb von 18 Monaten) bezogen werden und wird durch die Erwerbsersatzordnung zu 80% des Lohns entschädigt (Betreuungsentschädigung). Im vorliegenden Artikel geht es jedoch um den Kurzurlaub von wenigen Tagen gemäss Art. 329h OR, der in der Praxis wesentlich häufiger eine Rolle spielt.

Empfehlungen an Arbeitgeber:

Für Arbeitgeber ergeben sich aus dieser Rechtslage folgende praxisorientierte Empfehlungen:

 

Überprüfung der Arbeitsverträge /Personalreglemente und Kommunikation: Überprüfen Sie Ihre Arbeitsverträge und/oder Personalreglemente und passen Sie diese entsprechend an, auch wenn die gesetzlichen Regelungen automatisch gelten und vertraglich nicht zu Ungunsten der Mitarbeitenden abgeändert werden dürfen. Kommunizieren Sie die Änderungen gegenüber der Belegschaft.

Ärztliches Zeugnis: Verlangen Sie von Mitarbeitern, die Betreuungsurlaub beanspruchen, ein glaubwürdiges ärztliches Zeugnis über die Beeinträchtigung und den Betreuungsbedarf des Angehörigen. Zwar schreibt Art. 329h OR kein Arztzeugnis vor, doch trägt der Arbeitnehmer die Beweislast für den Anspruch.

Dokumentation und Kontingentüberwachung: Erfassen Sie alle Pflegeabsenzen systematisch (Datum, Dauer, Anlass, betroffene Person). So behalten Sie den Überblick, dass die Obergrenze von 10 Tagen pro Dienstjahr für bezahlte Betreuungsurlaube nicht überschritten wird. Bei Angestellten mit krankem Kind sollte zudem festgehalten werden, ob die Abwesenheit auf das Guthaben nach Art. 329h OR angerechnet wird oder ob sie als Lohnfortzahlungsfall nach Art. 324a OR behandelt wurde. Hintergrund: Wird die Absenz als normale Lohnfortzahlung (Art. 324a OR) verbucht, belastet sie das 10-Tage-Kontingent gemäss Art. 329h OR nicht. Diese Unterscheidung kann relevant werden, falls der/die Mitarbeitende später im Jahr noch weitere Angehörige pflegen muss.

Lohnfortzahlung: Ist der Anspruch gegeben, muss der Lohn für die Abwesenheitszeit zu 100% weiterbezahlt werden. Anders als beim 14-wöchigen Betreuungsurlaub für schwer kranke Kinder, der über die EO entschädigt wird, gibt es für den Kurzurlaub keine staatliche Vergütung – der Arbeitgeber trägt die Lohnkosten selbst. Prüfen Sie daher Ihre Lohnfortzahlungsregelungen: Sofern Sie eine Krankentaggeld-Versicherung für Mitarbeitende abgeschlossen haben, klären Sie, ob diese auch bei Betreuung eines Kindes/Angehörigen Leistungen erbringt. Falls nicht, muss der Arbeitgeber selber zahlen, solange die gesetzliche Dauer der Lohnfortzahlungspflicht nicht überschritten ist. Beachten Sie, dass die Lohnfortzahlungspflicht nach OR zeitlich begrenzt ist (z.B. mindestens 3 Wochen im 1. Dienstjahr, danach je nach Skala entsprechend länger). In den meisten Fällen bleibt die Betreuung kranker Angehöriger aber deutlich innerhalb dieser zeitlichen Grenzen.

Flexible Lösungen und Alternativen: Nicht jede Betreuungssituation erfordert eine vollständige Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Prüfen Sie gemeinsam mit der betroffenen Person, ob Alternativen zur vollen Absenz bestehen. Beispiele: Home-Office oder Teilzeitarbeit auf Abruf, sofern die Betreuung (etwa eines kranken Teenagers) dies zulässt. Auch kann über Arbeitszeitflexibilität (z.B. Vor- oder Nachholen von Stunden) gesprochen werden, falls der gesetzliche Anspruch ausgeschöpft ist. Kurzzeitige Abwesenheiten von wenigen Stunden – etwa um einen Angehörigen zum Arzt zu begleiten – fallen unter Umständen gar nicht unter den Betreuungsurlaub, sondern unter die üblichen kurzen Urlaubstage gemäss Art. 329 Abs. 3 OR.

zur Übersicht